Bei der Auswahl des Wunschortes im Rahmen der Bewerbung als Volunteer für die WM 2018 gab es keinen Zweifel: St. Petersburg sollte es sein, und die Kulturmetropole sollte mich nicht enttäuschen. Im Venedig des Nordens angekommen musste ich mich zunächst an die etwas schroff erscheinende russische Mentalität gewöhnen. Der Kontrast zwischen tief verankerten Mustern aus Soviet-Zeiten und den zunehmend kosmopolitischen Facetten war offensichtlich, und durchaus spannend. Spätestens als mir beim morgendlichen Besuch eines lokalen Marktes der erste Wodka angeboten wurde lernte ich dann auch die russische Herzlichkeit kennen. Zumal ich mir inzwischen durch den Besuch von ehemaligen Zarenresidenzen – unfassbare Ensembles aus Parkanlagen & Palästen – auch einen kulturellen Einblick eingeholt hatte. Ein Highlight waren natürlich die Weißen Nächte, fast schon magisch, wenn allnächtlich zunächst ein Träumchen aus hellblau-rot-orange und dann ein Milchfilter den Horizont bedeckt. Auch mein Arbeitsort, das futuristische, spektakulär an der Spitze einer innerstädtischen Insel gelegene Stadion war ein absoluter Blickfang. Zugleich aber auch ein Sinnbild für Korruption, Bereicherung und Pfusch. Die Baukosten vervielfältigten sich auf teils mysteriöse Weise. Dort erlebte ich in der bewährten Funktion als Media Volunteer emotionale Momente: der marokkanische Reporter auf der Pressetribüne, der beim Abspielen der Nationalhymne vor Glück in Freudentränen ausbrach, das bizarre Schauspiel des vor Pathos nur so strotzenden Maradona im VIP Bereich, die erleichterte Selecao in der Mixed Zone nach einem Last-Minute Sieg…Die Organisation und die Aufgaben im Medien Center waren im Vergleich zu der letzten WM auf dem Papier die gleichen, ein wenig vermisste ich nur die brasilianische Leichtigkeit. Aber vielleicht kann man dies in Russland, wo selbst unsinnigste Vorgaben in aller Regel strikt und ohne Möglichkeit zur Diskussion eingehalten werden, auch einfach nicht erwarten. Umso schöner waren die Besuche in unserem Stammlokal nach absolvierten Schichten, dem „Alpenhaus“, einer idealerweise direkt neben dem Stadion gelegenen Bierstube. Fans aus aller Herren Länder verwandelten die Lokalität nach den Spielen in eine einzige Partyzone. Ungläubig rieben sich die russischen Gäste ob der ausgelassenen Stimmung regelmäßig die Augen. Generell haben die Einheimischen diese Tage in vollen Zügen genossen, wohlwissend, dass sie Teil eines Spektakels sind, das eine absolute Ausnahme darstellt. Alkohol in der Öffentlichkeit, hilfsbereite Polizisten, ungezwungene Treffen zwischen In- und Ausländern, brazilian moments: all dies war wohl leider nur eine temporäre Erscheinung. Wobei ja sicher ist, dass nichts sicher ist. Und selbst das nicht. Erstaunt war ich auch, dass sich die lokalen Volunteers weitestgehend gar nicht für Fussball interessierten. Dem ein oder anderen ging es eher um einen Eintrag im Lebenslauf als um eine Leidenschaft, oder wie Tante Käthe es formulieren würde: Sie haben den Fussball nie geliebt. Ganz im Gegensatz zu den fussballverrückten auswärtigen Volunteers, die alle gemeinsam im Tourist Hotel (heisst wirklich so) untergebracht waren. Der kostenfrei zur Verfügung gestellte Soviet-Kasten war alles andere als komfortabel, eine (!) Keycard für bis zu 5 Gäste pro Zimmer ist vielleicht etwas ungünstig, und auch die regelmäßig auf den Eingangsbereich abfallenden Balkonelemente sorgten für Unbehagen. Allerdings erfüllte der Betonklotz seinen Zweck, und die Zentralisierung der Volunteers entpuppte sich als großer Pluspunkt. Auf dem Bolzplatz nebenan wurden so einige Matches ausgetragen, der Konferenzraum wurde allabendlich zum geselligen Treffpunkt umfunktioniert und an manchen Tagen wurde gezaubert als gäbe es kein Morgen. Die desaströsen Auftritte der DFB-Elf schauten wir gemeinsam auf dem Fan Fest, natürlich stilvoll eingebettet inmitten prachtvoller Gebäude. Mein Zimmer teilte ich mit 2 jungen Russen aus Sibirien sowie einem weitgereisten Politikersohn aus Pakistan, allesamt sympathische, unkomplizierte Zeitgenossen. Dies gilt auch für Jose „Pepin“ Alvarado, den personifizierten Inbegriff eines Abenteurers, in dessen Limousine wir anno 2014 die legendäre Nacht von Rio verbrachten. Das Wiedersehen mit ihm war mir eine besondere Ehre. Ebenso wie die Begegnung mit dem famosen (Lebens-)künstler Mark Ahr, der meinen ägyptischen amigo Ahmed und mich nach dem Kauf eines seiner Werke zum Frühstück in seine inspirierende Wohnung einlud. In Erinnerung bleiben wird auch der emeritierte afroamerikanische Professor Assefa, wie die soeben erwähnten Personen ebenfalls Mitglied im Zirkel der Weisen, den ich beim abschließenden Moskau-Besuch im Kapselhotel kennen- und schätzenlernte. Übrigens hat mich Moskau und dort insbesondere der urbane Wandel noch viel mehr als SPB positiv überrascht. Und selbstverständlich sind die zahlreichen Fans des beautiful game zu nennen. An erster Stelle jene aus Lateinamerika (die Europäer machten sich rar): Fantastische Mexikaner & Brasilianer, fanatische Argentinier, die pura-vida Ticos aus Costa Rica, die Cafeteros aus Kolumbien, aber auch die Nigerianer, Marokkaner und Iraner, tatsächlich auch Iranerinner! Sie alle brachten in diesen denkwürdigen Tagen eine bunte, stimmungsvolle Atmosphäre nach Saint Peter. Mundialistico! Man wird sie vermissen in dieser Stadt des Lichts, die wahren Stars of the White Nights. Die wahren Gewinner wiederum werden die Einheimischen sein, die Feuer gefangen haben, und zwar freiwillig, ohne dass sie zum mitmachen überredet werden mussten. Eine veränderte Gesellschaft, voller Eindrücke von dem, was sie erlebt haben, von den schönen Begegnungen mit Ausländern. Rückblickend werden die Augen leuchten, vielleicht werden sie auch Fragen stellen, vielleicht werden sie ein wenig zusammenrücken mit der Welt. Es wäre viel wert in diesen Zeiten.
Großartige Schreibweise…..da wünscht man sich, dabei gewesen zu sein! Freue mich schon auf Katar und Kanada/Mexiko/USA.