In heutigen schnelllebigen Zeiten, in denen man allzu schnell Dinge vergisst, die man niemals zu vergessen glaubte, in denen man vergisst, was man träumte und was man sich zuflüsterte, sind Erinnerungen wichtig. Sie sind das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können und manchmal reicht es sogar, sich in Erinnerungen zu verlieben. Ein Rueckblick in das Jahr 2009: Es gibt Orte, die auf den ersten Blick eine gewisse Magie ausstrahlen. Rio de Janeiro, daran gab es nach ganz wenigen Momenten keinen Zweifel, war für mich ein solcher Ort. Wie der Zufall es wollte, fand in jenen unbeschwerten Tagen anno ’09 auch die Bekanntgabe der Host-City der Olympischen Spiele 2016 statt. Bei der Entscheidung – per Liveübertragung an der Copacabana – gab es bei den Cariocas kein Halten mehr, und auch mir, dem Rio-Novizen, soufflierte eine innere Stimme, dass ich dabei sein müsste. Spätestens nach der glorreichen WM 2014 mit dem Final-Schauplatz Rio wandelte sich diese lose Idee in ein alternativloses Vorhaben. Es gibt nichts Mächtigeres, als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Bewerbung als Volunteer abgeschickt, Flug gebucht, Wohnung gemietet, alles war bereits frühzeitig angerichtet. Pünktlich zur Eröffnungsfeier war ich dann da. Das kleine Apartment war zwar klein und hoffnungslos überbelegt, die Lage allerdings sprach für sich. Direkt an der Nossa Senhora de Copacabana, in Sichtweite zum Copacabana Palace. So klapperte ich flugs jene Orte in der Nähe ab, die mit früheren Besuchen verknüpft sind: Die Saftbar des WM-Finals, die Churrascaria und das Fischlokal meines Vertrauens, und eben den legendären Palast. Dann stand auch schon das Einkleiden und die Akkreditierung fuer meinen Volunteer-Job auf dem Programm. Bereits bei der Anreise zur „Cidade do Samba“, wo normalerweise fuer den Karneval trainiert wird, wurde klar, dass es ein Olympia der langen, weiten Wege und des Verkehrschaos werden wuerde. Es zeigte sich auch mal wieder, dass die Brasilianer zwar Spaß an der Arbeit vermitteln, aber oftmals nicht unbedingt dazu befähigt sind. Es gab viel zu viele Mitarbeiter, die viel zu wenig Bescheid wussten. Auf dem Weg zur U-Bahn nach einem Arbeitstag im Maracanazinho, dem Volleyballstadion, traf ich nach Mitternacht – die Spiele waren längst vorbei – noch diverse menschliche Wegweiser – ich war die einzige Person weit und breit. Die Brasilianer lieben das Nichtstun, das Ueber-Nichts-Nachdenken in einem Maße, wie wir es wohl nie nachvollziehen werden können. Ich liebe es, mich auf Kosten der Einfältigen zu amüsieren Zur weitestgehend negativen deutschen Berichterstattung über die Spiele allerdings nur ein Satz: So berichteten jene, die nicht (wirklich) dabei gewesen sind. Sehr schön anzusehen war z.B. die Verwandlung des vormals tristen Stadtzentrums in eine attraktive Gegend, zumindest was den Bereich des Hafens und des Boulevard Olimpicos mit seiner Poesie des Straßenlebens angeht. Dort beim Public Viewing neben dem Olympischen Feuer als gefuehlt einziger Deutscher das Fussball-Finale Deutschland-Brasilien zu verfolgen war ne tolle Sache, auch wenn ich nachher ordentlich Schadenfreude einstecken musste. Ein kurzes „sete a um (7:1)“ – das mittlerweile als Synonym fuer „Schande“ in den brasilianischen Sprachgebrauch eingegangen ist – reichte, um sie wieder verstimmen zu lassen. Während der Olympischen Spiele war Fussball allerdings eher zweitrangig – the place to be war zweifellos die Arena do Volei de Praia, die Beachvolleyballarena, schon jetzt eine Legende, ein Mythos auf Zeit, Schauplatz der Verbrüderung der Welt, mit Blick auf die Berge und das Meer, auf Kriegsschiffe und Favelas. Somit ließ ich fast alle anderen Events links liegen und deckte mich ohne Ende mit Tickets für das Spektakel ein. Ein Kuriosum während der Vorrunde waren die ägyptischen Damen, die selbst bei tropischen Temperaturen in Ganzkörpermontur und mit Kopftuch aufliefen, im freizügigen Brasilien aber ironischerweise schnell zu Publikumslieblingen avancierten. Mit meinem ägyptischer Freund Ahmed ließen wir uns vom Exotenbonus anstecken und freundeten uns mit den beiden Beach-Queens nach einem Spiel im Backstagebereich an. Es ist erstaunlich, wie mühelos Bereiche mit Zugangskontrolle – übrigens auch nach dem Finale – zwecks obligatorischen Goldmedaillenfoto – in Brasilien betreten werden können. Man kann von Glück reden, dass Terroristen offenbar nicht an Anschlägen in Rio interessiert waren. Wie schon angeklungen endete das Turnier mit dem Triumph der deutschen Golden Girls, die sowohl im Semi- als auch in Finale die lautstark unterstützten Gastgeberduos eindrucksvoll deklassierten. Die Medaillenzeremonie weit nach Mitternacht am Geburtsort des Beachvolleyballs war unvergesslich. Das Comeback des Augenblicks. Die Nächte verbrachten wir sonst oft in den Straßen, Bars und Clubs des legendären Stadtteils Lapa, einmal auch im leider viel zu abgehobenen Schickimicki-Club des French House an der Lagoa. Bei einem solchen Megaevent sind leider auch all jene dabei, die sich verlaufen haben, und die man anderswo mit Blaulicht einweisen würde. Davon abgesehen waren die Olympia-Häuser der Nationen immer einen Besuch wert, zu nennen ist das partywuetige Austria-House, die eher kulturellen Casas de Colombia und de Mexiko und auch das Deutsche Haus am Strand, das wir anlässlich eines Auftritts von MC Gringo, einem etwas durchgeknallten deutschen Funk-Musikers und Favela Besucher besuchten. Apropos Favela, einem Geheimtipp folgend, wollten wir eines Tages mal ganz abseits von dem Olympia-Hype ein Graffiti-Sozialprojekt in der Nähe des pittoresken Kuenstlerviertels Santa Teresa besuchen. Die Polizisten am Eingang der Favela dos Prazeres wussten natuerlich von Nichts, ließen uns passieren, und erst als es anfing unheimlich zu werden, trafen wir auf eine Art Sozialarbeiterin, die uns erst einmal erklärte, das man sich in Prazeres nicht selber einlädt, sondern eingeladen wird. Dennoch wurde es ein sehr interessanter Einblick in die aktive Kultur, die auch in den Armenvierteln kein Privileg von Joghurt ist. Nach der Olympiade verließ ich Rio, um noch für ein paar Tage in Buzios, wo sich vor 50 Jahren schon Brigitte Bardort erholte, in einer entspannten Pousada runterzukommen. Dormitory & Deluxe. Man ist ja keine 20 mehr. Was bleibt von dieser Zeit? Die wahnsinnigen Momente und Emotionen hätte ich gerne festgehalten. Gluecklicherweise prägen sich Ereignisse desto mehr ein, je emotionaler man sie erlebt. Doch die Euphorie geht vorbei, kein Thrill lässt sich auf Dauer halten. Es sind Wellenbewegungen und mit Glück erwischt man die Spitze einer Welle und ist live dabei, so wie 2009, 2014 und 2016 In Rio de Janeiro, der wahrhaftigen cidade maravilhosa.
